Bolzum (Niedersachsen)
Bolzum ist heute ein Ortsteil der Stadt Sehnde mit derzeit ca. 1.300 Einwohnern – etwa 20 Kilometer südöstlich vom Stadtzentrum Hannovers gelegen (Kartenskizzen 'Region Hannover', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0 und 'Lage von Bolzum im Sehnder Stadtgebiet', aus: wikipedia.org, gemeinfrei).
Seit der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts sind erstmals Juden in Bolzum urkundlich nachweisbar. Offiziell galten sie als „Schutzjuden“ des Hildesheimer Bischofs, doch die adlige Dorfherrschaft legte ihnen ebenfalls Schutzgeldzahlungen auf. Die ersten beiden in Bolzum lebenden jüdischen Familien verdienten ihren Lebensunterhalt als Metzger.
Obwohl die Zahl der Bolzumer Juden gering war, erhielt die Dorfjudenschaft im Jahre 1830 offiziell ihre Anerkennung als autonome Synagogengemeinde; dieser schlossen sich etwa ein Jahrzehnt später die Juden aus Sehnde und Ilten an. Gottesdienstliche Zusammenkünfte fanden zunächst in sehr bescheidenen Räumen statt; um 1835/1840 ließ die Gemeinde in der heutigen Marktstraße eine schlichte Synagoge mit Schul- und Lehrerwohnung bauen. Das nach einem Großbrand (1857) stark beschädigte Gebäude wurde zwei Jahre später wieder instandgesetzt. Die im Synagogengebäude untergebrachte Schule besaß um 1840/1860 den Status einer gemeindlichen Elementarschule; als die Zahl der schulpflichtigen Kinder dann jedoch stark zurückging, schaffte man die Lehrerstelle ab.
Zu den gemeindlichen Einrichtungen gehörte auch ein kleines Friedhofsgelände; die älteste nachweisbare Beerdigung fand hier 1825 statt.
Der Synagogengemeinde Bolzum, dem Landrabbinat Hildesheim angeschlossen, gehörten neben Sehnde auch die Orte Groß-Lobke, Ilten und Haimar an; Lehrte hatte sich 1877 der Gemeinde Burgdorf angeschlossen.
Juden in Bolzum / Sehnde:
--- um 1730 ..................... eine Familie,* * Bolzum
--- um 1795 ..................... 6 Familien,*
--- 1816 ........................ 32 Juden,*
--- 1836 ........................ 36 “ ,*
--- 1854 ........................ 52 “ ,*
--- 1871 ........................ 42 “ ,** ** Bolzum und Sehnde
--- 1885 ........................ 33 “ ,**
--- 1905 ........................ 10 “ ,**
--- 1925 ........................ 16 “ ,*** *** nur Sehnde
--- 1933 ........................ 11 “ ,***
--- 1939 ........................ 5 “ .***
Angaben aus: A.Baumert/M.Buchholz/N.Kratochwill-Gertich (Bearb.), Bolzum - Sehnde, in: H. Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen ..., Bd. 1, S. 237
Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts zählte die jüdische Bevölkerung in Bolzum knapp zehn Familien. Sie bestritten ihren Lebensunterhalt als Viehhändler und Schlachter, als Landprodukten- und Manufakturwarenhändler und als Gastwirte. Mit dem Bau einer Bahnstrecke, die Bolzum in Abseitslage brachte, verschlechterten sich die Lebensbedingungen, sodass vor allem jüngere Familien in wirtschaftlich prosperierende Regionen abwanderten. Als sich Ende des 19.Jahrhunderts die völlige Auflösung der Gemeinde abzeichnete, verlegte man den Gemeindesitz nach Sehnde. Ab der Mitte der 1920er Jahre lebten dann in Bolzum keine Juden mehr.
Anfang der 1930 Jahre gab es in Sehnde drei Geschäfte jüdischer Eigentümer, die auf Grund der Boykottmaßnahmen jedoch bald in wirtschaftliche Not gerieten. Während des Novemberpogroms kam es auch hier zu Gewalttätigkeiten gegenüber den wenigen noch im Ort lebenden Juden. 1941/1942 wurden die letzten von ihnen nach Riga bzw. Theresienstadt deportiert. Im Juli 1942 meldete der Sehnder Bürgermeister die Stadt als „judenfrei“.
Einziges Relikt der ehemaligen jüdischen Gemeinde Bolzum/Sehnde ist heute der Friedhof in Bolzum mit seinen ca. 40 Grabsteinen. Anfang der 1940er Jahre sollen Bolzumer Bewohner mit der Einebnung des Friedhof begonnen haben; allerdings verhinderte das Kriegsende die vollständige Zerstörung. 1946 begann man mit der Wiederherstellung des Begräbnisgeländes, indem man die Grabsteine wieder aufrichtete.
Jüdischer Friedhof Bolzum (alle Aufn. B., 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Mit dem Kunstwerk „Scherben gegen das Vergessen“ von Rahel Bruns will die Stadt Sehnde die Namen der jüdischen Bürger/innen festhalten und ihnen einen Ort bleibender Erinnerung geben. In Anlehnung an die „Reichskristallnacht“ vom Nov. 1938 wurden die von der Künstlerin geschaffenen Glasplatten mit den eingravierten Namen der jüdischen Opfer einem heftigen Schlag ausgesetzt, der sie in alle Richtungen zersplittern ließ. „Die Namen sind dann nur noch als Fragmente, in einzelnen Buchstaben oder überhaupt nicht mehr zu lesen. Gebrochen, die Identität zerstört, wie bei den Menschen damals.“ Das Kunstwerk hat nun seinen Platz im öffentlich zugänglichen Foyer vor dem Ratssaal.
Abb. Rahel Bruns, 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0
Seit 2012 erinnern in Sehnde an drei Standorten insgesamt neun sog. „Stolpersteine“ an ehemalige jüdische Bewohner, so z.B. in der Nordstraße und der Mittelstraße (Aufn. B., 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Auch Im Ortsteil Ilten erinnert ein "Stolperstein" in der Hindenburgstraße an ein Deportationsopfer.
Weitere Informationen:
K. Backhaus, Die ‘Schutzjuden’ im Großen Freien ..., in: "Unser Kreis. Heimatblatt für den Kreis Burgdorf", No. 19/Sept. 1965
Adolf Meyer, Sehnde - Vom Bauerndorf zur Industriegemeinde. Beiträge und Quellen zur Geschichte einer Gemeinde im Großen Freien, Celle 1975
Friedel Homeyer, Gestern und Heute. Juden im Landkreis Hannover, Hannover 1984, S. 249 – 252
A. Baumert/M. Buchholz/N. Kratochwill-Gertich (Bearb.), Bolzum - Sehnde, in: H. Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Wallstein-Verlag, Göttingen 2005, Band 1, S. 236 - 244
Jüdischer Friedhof in Bolzum – Bilddokumentation der Grabsteine, in: wikipedia.org
Projektgruppe Stolpersteine (Hrg.), Zum Gedenken an das Schicksal der jüdischen Bewohner Sehndes (Flyer)
Projektgruppe Stolpersteine 2012 (Hrg.), Vom Schicksal jüdischer Einwohner Sehndes. Die Familie Schragenheim (Flyer), 2012
Oliver Kühn (Red.), Entwurf für Mahnmal wird vorgestellt, in: „Hannoversche Allgemeine“ vom 10.6.2014
Stadt Sehnde (Hrg.), Scherben gegen das Vergessen (Flyer)
Auflistung der in Sehnde verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Sehnde
Patricia Oswald-Kipper (Red.), Broschüre gedenkt Sehndes Nazi-Opfern, in: „Hannoversche Allgemeine“ vom 10.11.2015
Hans-Hermann Seiffert, Eine Sehnder Jüdin kommt zurück. Gerda Rose überlebt die NS-Todeslager Jungfernhof, Kaiserwald und Stutthof sowie den Todesmarsch, Hartung-Gorre Verlag, Konstanz 2016
Jens Kracke (Red.), SEHNDE – Novemberpogrome 1938 in Niedersachsen, Hrg. Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten, online abrufbar unter: pogrome1938-niedersachsen.de/sehnde/
Regina Runge-Beneke (Bearb.), Spuren.Suche – Ein Ort für die Ewigkeit (jüdischer Friedhof in Bolzum), Hrg. Projektgruppe „Stolpersteine“, 2020